1913

Massenpartei ohne Macht

Die letzten Jahre vor dem Krieg

Bei der Stuttgarter Oberbürgermeisterwahl des Jahres 1911 soll sich erweisen, dass die Bündnisstrategie der südwestdeutschen „Realos“ durchaus noch immer an mancherlei Klassengrenzen stößt: Obwohl die SPD mit Hugo Lindemann einen allseits angesehenen kommunalpolitischen Experten ins Rennen um den Chefsessel im Rathaus schickt, sieht sie sich einer breiten Allianz der „bürgerlichen“ Parteien gegenüber. Ein Sozialdemokrat als Oberbürgermeister – das geht auch den Vertretern der liberalen Parteien nun doch zu weit. Dennoch trägt Lindemanns „bürgerlicher“ Gegenkandidat einen höchst knappen Sieg davon. 

Bis 1913 ist die Zahl der Sozialdemokraten in den kommunalen Gremien Württembergs auf 865 angewachsen. In Baden ist die Zahl fast doppelt so hoch: Nachdem das kommunale Dreiklassenwahlrecht dort einmal beseitigt ist, stellt die SPD im Badischen vielerorts die Mehrheit in den Stadtverordnetenversammlungen. Angesichts ihrer erfolgreichen Reformpolitik hat die Landespartei bei der Landtagswahl des Jahres 1909 ihren Stimmenanteil auf über 28 Prozent steigern und die Anzahl ihrer Mandate von 12 auf 20 erhöhen können. 

Auch die württembergische SPD kann bei der Landtagswahl im Herbst 1912 ihren Stimmenanteil auf 29 Prozent steigern. Bei der Reichstagswahl im Januar desselben Jahres hat sie mit 32,5 Prozent sogar beinahe ans Reichsergebnis der Partei aufgeschlossen, freilich trotzdem nur drei von 17 württembergischen Mandaten ergattert. 

In anderen deutschen Ländern ist die Mandatsverteilung günstiger ausgefallen, so dass die SPD seit dieser Wahl nun erstmals die stärkste Fraktion im Reichstag stellt. Diesem „historischen“ Sieg kommt freilich eher symbolische denn praktische Bedeutung zu: Die Reichsregierung ist nicht dem Parlament, sondern einzig dem Kaiser verantwortlich. Selbst über existenzielle Fragen wie über die nach Krieg oder Frieden kann der Monarch eigenmächtig entscheiden – und wird es schon bald auch auf unselige Weise tun.