1906

Getrennt marschieren, vereint schlagen

Mannheimer Parteitag und „Mannheimer Abkommen“

Nachdem Stuttgart 1898 Parteitagsdelegierte aus dem gesamten Reich hat empfangen dürfen, wird 1906 die gleiche Ehre Mannheim zuteil, das unterdessen mit zu den wichtigsten Arbeiterhochburgen im Reich gehört.  

Die SPD zählt in der Quadratestadt jetzt rund 4.600 Mitglieder, was einem Drittel der badischen Gesamtmitgliedschaft entspricht. 1905 hat die Mannheimer Parteisektion im örtlichen Bürgerausschuss eines der ersten kommunalen Arbeitsämter im ganzen Reich, kurz darauf sogar die Einführung einer städtischen Arbeitslosenversicherung und andere Elemente einer modernen öffentlichen Wohlfahrtspolitik durchsetzen können. Der SPD-Landesverband wird der Bedeutung der Stadt für die Bewegung 1908 Rechnung tragen, indem er sie offiziell zu seinem „Vorort“ und zum Sitz der Parteizentrale erklärt. 

Bereits von seinem äußeren Rahmen her soll sich der Mannheimer SPD-Parteitag deutlich von allen bisherigen Zusammenkünften dieser Art abheben: Mit dem „Rosengarten“, einem erst drei Jahre zuvor eröffneten prachtvollen Kongressgebäude, haben die Mannheimer Genossen den städtischen Behörden einen Veranstaltungsort abgetrotzt, der selbst nach dem kritischen Urteil Rosa Luxemburgs an Pracht seinesgleichen sucht. Dass der Arbeiterbewegung der Einzug in diesen Luxustempel gegen erbitterte Widerstände gelungen ist, erscheint vielen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer als symbolhaft. 

Der Mannheimer Parteitag widmet sich schwerpunktmäßig den Themen „Politischer Massenstreik“, „Volkserziehung“ sowie „Strafrecht, Strafprozess und Strafvollzug“. In der Massenstreikfrage kommt kaum mehr als eine unverbindliche Absichtserklärung zuwege, immerhin aber wird ein einheitliches Vorgehen von Partei und Gewerkschaften im Bedarfsfall verabredet. Das Grundsatzziel einer Abschaffung der eklatanten Bildungsprivilegien wird in Mannheim mit handfesten Forderungen untermauert. In die Annalen aber soll dieser Parteitag aus anderen Gründen eingehen: 

Das „Mannheimer Abkommen“ zwischen SPD einerseits und Freien Gewerkschaften andererseits erbringt die mehr als überfällige Klärung des Verhältnisses zwischen den beiden tragenden Säulen der deutschen Arbeiterbewegung. Endlich erkennt die Partei an, dass die Gewerkschaften nicht nur als verlängerter Arm der Partei begriffen werden können, sondern sich längst zu einem gleichberechtigten Partner im Ringen um die Emanzipation der Benachteiligten und Entrechteten gemausert haben. Umgekehrt bietet das Abkommen der Partei die Sicherheit, dass die erstarkten Gewerkschaften nicht einfach über ihren Kopf hinweg eigenmächtig politische Aktionen anzetteln werden. 

Darüber hinaus trägt das „Mannheimer Abkommen“ auch zur Klärung der innerparteilichen Positionen bei. Durch seine Genese wie durch seinen Wortlaut nämlich ist endgültig deutlich geworden, dass nicht nur die Gewerkschaftsführer, sondern auch die Mitglieder des Parteivorstands aller anders lautenden Rhetorik zum Trotz eine reformorientierte Strategie verfolgen – eine Strategie, die eine starke orthodoxe Minderheit innerhalb der SPD weniger und weniger mitzutragen gewillt ist. Die Massenstreikdebatte, der manche mit dem Parteitag gerade ein Ende gesetzt zu haben glauben, wird sich deshalb in der Folgezeit umso heftiger entzünden. Der Mannheimer Parteitag von 1906 steht damit am Anfang jenes Prozesses, der letztlich in die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung münden wird.