Die südwestdeutsche Sozialdemokratie als Avantgarde und Volkspartei?

Eine Einführung

„Wer die Vergangenheit vergisst oder vergessen will, muss frühere Dummheiten wiederholen – statt neue zu machen.“  

Emil Julius Gumbel 

Die südwestdeutsche Sozialdemokratie als Avantgarde und Volkspartei? Ein wahrhaft vollmundiger Anspruch, gelten doch Baden und Württemberg gemeinhin nicht gerade als sozialdemokratische Stammlande. Bis sich der 1863 gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein und die mit ihm seit 1869 konkurrierende Sozialdemokratische Arbeiterpartei im deutschen Südwesten etablieren konnten, dauerte es in der Tat eine ganze Weile. Auch hernach war die Sozialdemokratie im Badischen und im Württembergischen – von einigen industriellen Hochburgen abgesehen – strukturell selten mehrheitsfähig. 

Dessen ungeachtet sind vom deutschen Südwesten stets entscheidende Impulse für die sozialdemokratische Sache ausgegangen – und das sogar schon lange vor der Gründung der beiden Arbeiterparteien in den 1860er Jahren: Bereits in der Zeit des Vormärz haben sich hier Menschen aus dem Bürger- wie aus dem Arbeiterstande als „sociale Demokraten“ begriffen und für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität gestritten. 

In der Tradition dieser ganz spezifischen Form klassenübergreifender Zusammenarbeit hat die südwestdeutsche Sozialdemokratie später eine ebenso pragmatische wie zukunftsweisende Koalitions- und Reformpolitik betrieben: Schon um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als die Reichs-SPD noch in Revolutionspathos und Klassendenken verfangen war, haben badische und württembergische Sozialdemokraten mit einem modernen, konsensorientierten Politikstil Wahl- und Sozialreformen durchgesetzt, die in den meisten deutschen Ländern zu dieser Zeit noch undenkbar waren. 

Auch späterhin hat die SPD die südwestdeutsche Landespolitik weit stärker geprägt, als es ihr jeweiliger Stimmenanteil vermuten lassen würde – so vor allem in der Innen-, Kultur- und Sozialpolitik. Und schon lange vor der Gründung der Grünen haben baden-württembergische Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten vehement eine Politik angemahnt, die Ökologie und Ökonomie versöhnt. Mit der Forderung nach einem „qualitativen Wachstum“ sind sie ihrer Zeit ebenso voraus gewesen wie 130 Jahre zuvor die südwestdeutschen „socialen Demokraten“ mit ihrem Streben nach „Freiheit, Wohlstand und Bildung für alle“. Und so wie diese haben sie den Anspruch erhoben, die gesamte Bürgergesellschaft zu vertreten: Sie waren die politische Avantgarde – und verstanden sich als Volkspartei.