Nach nur sechzehnmonatiger Regierungszeit kann die baden-württembergische SPD zur Landtagswahl vom April 1968 bereits eine beachtliche Bilanz vorlegen: Endlich ist die jahrelange Auseinandersetzung um die Schulfrage gelöst, die christliche Gemeinschaftsschule zur Regelschule avanciert und die Konfessionsschule endgültig abgeschafft. Auf Betreiben der SPD hat die Landesregierung darüber hinaus die Gründung von Gesamt- und Ganztagsschulen, eine Hochschulreform sowie erste Schritte hin zu einer umfassenden Verwaltungsreform auf den Weg gebracht, eine mittelfristige Finanzplanung eingeführt, ein Landeskonjunkturprogramm aufgelegt und einen Landesentwicklungsplan verabschiedet.
„Filbinger mach’ Pause, jetzt kommt Walter Krause“ – anders, als der flotte Wahlslogan vermuten lässt, wird der Wahlkampf gegen den eigenen Koalitionspartner nicht sehr offensiv geführt. Trotz der Popularität ihres Spitzenkandidaten und trotz aller Regierungserfolge büßt die SPD bei der Landtagswahl mehr als acht Prozentpunkte ein und kommt nun gerade einmal auf 29 Prozent der Stimmen. Dass die CDU ebenfalls rund vier Prozent verloren hat, kann kein Trost sein. Dies zumal, als die Angst vor der Studentenrevolte, die nach dem Dutschke-Attentat einem Höhepunkt entgegensteuert, nun die rechtsextremistische NPD mit einem Stimmenanteil von fast zehn Prozent in den baden-württembergischen Landtag gespült hat.
In der festen Überzeugung, dass sich eine weitere Regierungsbeteiligung nicht nur für das Land, sondern letztlich auch für die SPD auszahlen werde, wollen Partei- und Fraktionsführung trotz alledem an dem aus ihrer Sicht sehr erfolgreichen Koalitionsbündnis mit der CDU festhalten. Nicht zuletzt die Verwaltungs- und Gebietsreform gilt es aus ihrer Sicht zu Ende zu bringen, für die Krause bereits sehr viel Vorarbeit geleistet hat. Angesichts der massiven Stimmenverluste für die SPD ist diese Strategie indes an der Parteibasis äußerst umstritten: Auf einer eilends einberufenen Landesdelegiertenkonferenz im südbadischen Kehl versagt eine knappe Mehrheit der Delegierten einer Fortsetzung der Großen Koalition die Zustimmung. Walter Krause und sein Stellvertreter Walter Hirrlinger legen daraufhin den Parteivorsitz nieder.
Das Kehler Treffen wird als sogenannter „Rotkehlchen-Parteitag“ in die Annalen der Südwest-SPD eingehen. Die Frage nach einer Fortsetzung des Regierungsbündnisses mit der Filbinger-CDU ist jedoch weniger eine Frage der Zugehörigkeit zu Parteiflügeln als eine Generationenfrage. Neben Teilen des gewerkschaftlichen Lagers um Eugen Loderer setzt sich die Ablehnungsfront vor allem aus jüngeren, sich durchaus als links verstehenden Akademikern wie Horst Ehmke, Volker Hauff, Gunter Huonker, Harald B. Schäfer, Peter Conradi oder Rolf Böhme zusammen. Ulrich Lang wird später berichten, dass es in Kehl nicht so sehr um politische Einzelentscheidungen, sondern um die grundsätzliche Frage gegangen sei, ob die SPD einen Weg pragmatischer und kompromissreicher Anpassung an die bestehenden Verhältnisse gehen wolle oder ob sie die Kraft finde, eine eigene gesellschaftspolitische Vision zu entwickeln.