1957

Fort mit „totem Ballast“!

Südwestdeutsche Sozialdemokraten unterwegs nach Godesberg

Trotz ihrer staatstragenden Haltung und ihres Einsatzes für die Interessen der „kleinen Leute“ gilt die SPD in weiten Kreisen der deutschen Bevölkerung noch immer – wie schon zu Bebels Zeiten – als ein umstürzlerischer Haufen ebenso gott- wie vaterlandsloser Gesellen, und eine vielfach infame CDU-Propaganda schürt zusätzlich Ressentiments. Das geltende Parteiprogramm von 1925, in dem in altbewährter Tradition der Befreiungskampf der Arbeiterklasse und die Vergesellschaftung der Produktionsmittel postuliert werden, leistet den Vorbehalten durchaus Vorschub. Wen wundert’s also, wenn die SPD auf Bundesebene, aber auch und gerade in stark agrarisch und konfessionell geprägten Bundesländern wie Baden-Württemberg von der CDU abgehängt wird? 

Vor diesem Hintergrund sind es nicht zuletzt zwei Männer aus dem südwestdeutschen Landesverband, die auf den Wandel der SPD zu einer linken Volkspartei drängen: Carlo Schmid und der ehemalige südwürttembergische Landrat Fritz Erler, der wie Schmid seit 1949 dem Deutschen Bundestag angehört und sich rasch als außen- und verteidigungspolitischer Experte seiner Partei profiliert hat. Schon nach der verlorengegangenen Bundestagswahl des Jahres 1953 hat Schmid öffentlich gefordert, die SPD müsse sich von „totem Ballast“ befreien und sich von einer „Weltanschauungspartei“ zu einer „echten Volkspartei“ wandeln. Ähnlich hat auch Erler postuliert, die SPD müsse sich zu einer „großen Partei der Linken schlechthin“ transformieren und die Bundesrepublik aktiv in sozialdemokratischem Sinne gestalten. 

Das tradierte Arbeitermilieu und mit ihm die sozialdemokratische Subkultur beginnen ohnehin längst aufzubrechen. Alte Bindungen lösen sich, gleichzeitig ist die SPD offener geworden – abzulesen etwa an der Tatsache, dass sich ein wachsender Teil ihrer Funktionsträger aus Akademikern rekrutiert, die vielfach keine proletarischen Wurzeln haben. Dass darüber hinaus Partnerschaften und Bündnisse möglich sind, die einstmals undenkbar waren, erweist etwa die so genannte „Paulskirchenbewegung“ des Jahres 1955, die SPD, DGB und große Teile der evangelischen Kirche im antimilitaristischen Protest und im Kampf um die deutsche Wiedervereinigung eint und damit einen Vorgeschmack auf die spätere Kampagne „Kampf dem Atomtod!“ bietet. 

Das niederschmetternde Ergebnis der Bundestagswahl vom September 1957, bei der die CDU die absolute Mehrheit erringt und die SPD mit mehr als 18 Prozent Abstand hinter sich lässt, gibt den Reformern in der Partei endgültig Auftrieb. Schon bald darauf gelingt es Erler, Schmid und ihrem neuen Mitstreiter Herbert Wehner, in den Bonner Fraktionsvorstand einzuziehen und damit strategisch wichtige Positionen zu besetzen. Drängender noch als eine Revision des überholten Parteiprogramms steht aus ihrer Sicht allerdings eine grundlegende Parteireform auf der Agenda, die den Einfluss der Funktionäre alten Kalibers zurückdrängt. In regelmäßigen Viererrunden mit ihrem einstigen Fraktionskollegen Willy Brandt entwerfen die drei Strategien für den Weg der SPD zu einer modernen Volkspartei.