Dem Kehler Votum zum Trotz tritt die von Hirrlinger angeführte Landtagsfraktion nun erneut in Koalitionsgespräche mit der CDU ein und ringt ihr massive Zugeständnisse ab – so unter anderem ein mehrheitsbildendes Wahlrecht in Bund und Land, eine bessere Finanzausstattung der Gemeinden, die Sicherung der Vollbeschäftigung, die Fortsetzung der Verwaltungsreform sowie die Schaffung von Gesamt- und Ganztagsschulen, die dem Gesellschafts- und Familienbild der CDU komplett zuwiderläuft. Die SPD kann sich wieder das Innen-, das Justiz- und das Wirtschaftsressort sichern. Das Finanzministerium geht diesmal an die CDU, die SPD besetzt jetzt stattdessen das Sozialministerium.
Als SPD-Landesvorstand und Landtagsfraktion schließlich die Fortsetzung der Großen Koalition billigen und auch noch ausgerechnet der bisherige Fraktionsvorsitzende als Sozialminister ins Kabinett aufrückt, kommt es an der Basis zu einem wahren Aufruhr: Mitglieder treten aus der Partei aus, Funktions- und Mandatsträger legen ihre Ämter nieder. Ein Großteil der Koalitionsgegner sammelt sich in einem „Tübinger Kreis“. Viele seiner Mitglieder werden die Politik der Südwest-SPD in späteren Jahren maßgeblich mitprägen.
Anders als in Baden-Württemberg ist die Große Koalition auf Bundesebene schon nach drei Jahren wieder beendet: Mit der Bildung einer sozialliberalen Regierung unter Willy Brandt wird im Herbst 1969 nach zwanzigjähriger CDU-Dominanz die Tür zu einem Paradigmenwechsel in der Innen- wie in der Außenpolitik aufgestoßen. Der erste sozialdemokratische Kanzler in der Geschichte der Bundesrepublik will ausdrücklich mehr Demokratie in der Gesellschaft wagen. In der Ostpolitik setzt er auf einen „Wandel durch Annäherung“. Die neue Form des Dialogs mit dem Ostblock erbringt schon bald erhebliche Reiseerleichterungen für die Menschen im geteilten Deutschland und ebnet letztlich den Weg zur deutschen Einheit.
Im neuen Bundeskabinett finden wir aus dem deutschen Südwesten Alex Möller als Finanz- und Erhard Eppler als Entwicklungsminister, später gesellen sich Rainer Offergeld und Ernst Haar als Staatssekretäre im Wirtschafts- und Verkehrsministerium hinzu. Eppler und Haar werden auch noch dem 1972 gebildeten zweiten Kabinett Brandt angehören, desgleichen Horst Ehmke als Forschungsminister und Volker Hauff als sein Staatssekretär.
Unterdessen reißt in der baden-württembergischen SPD die innerparteiliche Kritik an dem ungeliebten Koalitionsbündnis mit der CDU und speziell an der Person Walter Krauses nicht ab. Vor allem das restriktive Vorgehen des sozialdemokratischen Innenministers gegen protestierende und randalierende Studierende in den Jahren 1969/70 stößt auf massiven Protest. Dem stehen unbestreitbare Reformerfolge gegenüber – so der Aufbau eines Gesamtschulsystems, die massive Förderung der politischen Bildungsarbeit oder die Tatsache, dass Krause 1969 – drei Jahre vor dem Bericht des Club of Rome über „Die Grenzen des Wachstums“ – umweltpolitisch Geschichte schreibt, indem er als erster deutscher Landesinnenminister einen Umweltbericht vorlegt.
Ihren wohl größten und nachhaltigsten Erfolg als Regierungspartei allerdings kann die Südwest-SPD mit der von Krause verantworteten Verwaltungs- und Gebietsreform verbuchen. Herzstück dieses Mammutprojekts ist die Kreisreform. Durch sie werden die bisherigen 63 Landkreise durch 35 größere Einheiten ersetzt. Im Zuge dessen wird erstmals auch der historisch gewachsene Grenzverlauf zwischen den alten Ländern Baden und Württemberg durchbrochen. Nicht nur deshalb sorgt der Eingriff für allerhand Wirbel. Das Ziel aber, leistungsfähigere Einheiten zu schaffen, die künftig auch an der Regionalplanung mitwirken können, ist erreicht.
Der Kreisreform folgen eine Gemeinde- sowie eine Behörden- und Funktionalreform, die durch Kompetenzverlagerungen mehr Bürgernähe erbringen sollen. Erst 1975 – die Südwest-SPD befindet sich längst wieder in der Opposition – wird das Reformwerk abgeschlossen sein, allerdings nicht in der ursprünglich vorgesehenen Weise: Nicht zuletzt die Abschaffung der Regierungspräsidien zugunsten einer stärkeren Regionalisierung, die die SPD 1971 regierungsintern durchsetzt, wird von der nachfolgenden CDU-Alleinregierung wieder rückgängig gemacht werden.