1900

Nur der „verlängerte Arm der Partei“?

Das Erstarken der Freien Gewerkschaften

Von Anfang an versteht sich die Sozialdemokratie als eine ebenso soziale wie politische Bewegung: Ihr Kampf um eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen zielt neben der Herstellung demokratischer Bürgerrechte auch auf die Schaffung menschenwürdiger Lebens- und Arbeitsverhältnisse ab. Innerparteilich zwar nicht unumstritten, halten marxistisch-deterministische Programmatik und revolutionäres Pathos die Sozialdemokratie zu keinem Zeitpunkt davon ab, auch für konkrete Reformen im Hier und Jetzt zu kämpfen – sei es in den Parlamenten, sei es in den Betrieben. So, wie gewerkschaftliche Zusammenschlüsse bereits an der Wiege der Partei gestanden haben, tragen sie daher auch jetzt maßgeblich zum wachsenden Zuspruch für die Sozialdemokratie bei. 

Farblithographie für den 8-Stundentag aus dem „Wahren Jacob“ (ca. 1895) 

Die Konfrontation mit den Fabrikherren kann damals leicht den Arbeitsplatz und im Extremfall die Existenz kosten: Wer einmal auf einer der „Schwarzen Listen“ mit den Namen notorischer Gewerkschaftsagitatoren gelandet ist, kann nur noch hoffen, dass ihn das dichter und dichter werdende Selbsthilfenetz der Arbeiterbewegung auffangen wird oder dass er sich vielleicht sogar in die wachsende Schar hauptamtlicher Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre einreihen darf. Gleichwohl gehen viele Tausend Männer und Frauen das Risiko ein und erkämpfen in zähen kleinen Schritten bessere Arbeitsbedingungen in den Fabriken. Der „Strike“, wie die Arbeitsniederlegung damals noch heißt, oder doch zumindest die Androhung desselben ist in diesem Zusammenhang ein zentrales Kampfmittel, Solidarität und eiserne Disziplin sind unumgängliche Voraussetzungen für den Erfolg. 

Bis zur Jahrhundertwende wachsen die sozialdemokratischen „Freien“ Gewerkschaften so zu einer machtvollen Bewegung heran, während die arbeitgebernahen Hirsch-Dunckerschen und die unterdessen gegründeten christlichen Richtungsgewerkschaften nicht nur zahlenmäßig auf verlorenem Posten stehen: Angesichts des im Kaiserreich vorherrschenden „Raubtierkapitalismus“ ist ihr programmatisches Konzept einer harmonischen Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitern und Unternehmern von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Trotz der zahlenmäßigen Dominanz der Zentrumspartei im deutschen Südwesten hat dieser Befund auch für die industriellen Zentren Badens und Württembergs zu gelten. 

Spottpostkarte auf den Stuttgarter Straßenbahner-Streik im Frühjahr 1902 

Wie die SPD haben auch die Freien Gewerkschaften ihre badischen Hochburgen in den industriellen Zentren Nordbadens: in und um Mannheim, Karlsruhe und Pforzheim. Allein in Mannheim zählen sie 1907 über 15.000 Mitglieder, mehr als ein Drittel der gesamten badischen Mitgliedschaft. Und wie die Partei üben auch sie eine sozialreformerische Praxis. So kooperieren sie vor allem mit der 1879 gegründeten badischen Fabrikinspektion, einer deutschlandweit einmaligen staatlichen Arbeiterschutz-Einrichtung. 

In Württemberg wiederum haben sich Stuttgart, Esslingen, Göppingen und Heilbronn als gewerkschaftliche Hochburgen etabliert. In der württembergischen Hauptstadt hat neben anderen Gewerkschaftsverbänden seit 1891 auch der neu gegründete Deutsche Metallarbeiterverband seinen Sitz, die erste nach dem Industrieverbands- statt nach dem Berufsprinzip aufgebaute und bald schon auch mächtigste Einzelgewerkschaft. 

Vom rasanten Bedeutungszuwachs der Freien Gewerkschaften im deutschen Südwesten zeugt die Tatsache, dass das Stuttgarter Gewerkschaftskartell 1897 eines der allerersten Arbeitersekretariate im ganzen Reich eröffnen kann. 1899 kann sich auch das Mannheimer Gewerkschaftskartell eine solche Einrichtung leisten. Die Arbeitersekretariate fungieren als „Arbeitsnachweise“ sowie als Beratungsstellen für arbeitsrechtliche Fragen. Darüber hinaus organisieren und koordinieren sie gewerkschaftliche Schulungskurse. Ihr Angebot geht damit weit über das der kommunalen Arbeitsämter hinaus, die – beginnend 1894 in Esslingen – unterdessen in manchen deutschen Städten entstehen. Flächendeckende staatliche Arbeitsämter wird die Arbeiterbewegung erst in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre durchsetzen können. 

Unter den zahlreichen Streiks, die in jenen Jahren im deutschen Südwesten geführt werden, sticht nicht zuletzt der groß angelegte Ausstand des Stuttgarter Straßenbahnpersonals im Frühjahr 1902 hervor. Eisen- und Straßenbahner unterliegen zu diesem Zeitpunkt noch einem strikten „Koalitionsverbot“. Umso erstaunlicher, dass – wie die „Schwäbische Tagwacht“ euphorisch berichtet – der Streik unverhofft breite Unterstützung durch Bevölkerung und Behörden erfährt. Zwar muss er schließlich ergebnislos abgebrochen werden, dennoch hat er eine entscheidende Bresche für das Recht der Eisen- und Straßenbahner auf eine gewerkschaftliche Betätigung geschlagen. 

Der Reichskongress der Freien Gewerkschaften, der kurz nach der Beendigung des Streiks in der württembergischen Landeshauptstadt tagt, legt in seinem „Stuttgarter Regulativ“ den Aufgabenbereich der gewerkschaftlichen Generalkommission fest. Um die Schlagkraft der Bewegung zu erhöhen, wird der Sitz der Generalkommission nun nach Berlin verlegt. 

Die Mitgliederzahl der Freien Gewerkschaften übersteigt die der SPD zu diesem Zeitpunkt bereits um ein Fünffaches. Dennoch wird die gewerkschaftliche Bewegung in den Reihen der Partei weiterhin als bloßer „verlängerter Arm“ der Partei begriffen. Erst mit dem „Mannheimer Abkommen“ des Jahres 1906 soll das Verhältnis der beiden Organisationen zueinander geklärt und der Situation angepasst werden.