1910

„Gretchenfrage“ Massenstreik

Die Herausbildung der Parteiflügel

Während die SPD-Führung um August Bebel und Paul Singer vordergründig weiterhin an der Idee eines gesetzmäßigen Sieges des Sozialismus festhält, hat Eduard Bernstein längst erkannt, dass so manche Voraussagen von Karl Marx nicht eingetroffen sind: Die Verelendung der Massen setzt sich nicht weiter fort, die Klassengegensätze verschärfen sich nicht. Vielmehr hat sich die Gesellschaft weiter ausdifferenziert. Daher – so Bernstein und seine Mistreiter – müsse die marxistische Parteilinie revidiert werden. Demgegenüber macht eine wachsende Gruppierung um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht geltend, dass die Revolution nicht einfach nur abgewartet werden dürfe, sondern aktiv herbeigeführt werden müsse. Mit dieser Auffassung geraten die Parteilinken freilich zwangsläufig in Konflikt mit der großen Masse der Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre, die eine strikt reformistische Linie zugunsten realer Verbesserungen im Hier und Jetzt verfolgt. 

Mit Clara Zetkin sowie dem Chefredakteur des Göppinger Parteiorgans „Freie Volkszeitung“, August Thalheimer, verfügt der revolutionäre Flügel in Württemberg über exponierte Vorkämpfer. Der Gegensatz zwischen ihnen und den „Realpolitikern“ um Hildenbrand und Keil könnte größer kaum sein. In Baden wiederum tut sich vor allem Adolf Geck, der Nestor der Offenburger SPD, als Sprecher der Parteilinken hervor. Um den „Realos“ um Kolb und Frank Paroli bieten zu können, organisieren sich die badischen „Fundis“ ab 1910 gar in lokalen „Karl-Marx-Klubs“. 

Dass eine klare Befürwortung des Massenstreiks nicht zwangsläufig mit einer revolutionären Gesinnung einhergehen muss, zeigt das Beispiel Ludwig Franks: Als auf dem Jenaer Parteitag 1913 die Massenstreikdebatte schärfer als je zuvor aufflammt, findet er sich an der Seite Luxemburgs, Liebknechts und anderer Exponenten des linken Flügels. Im Kampf um die Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts nämlich erscheint auch ihm ein Massenstreik als die Ultima Ratio.