1869

Selbsthilfe oder Staatshilfe?

Eisenacher contra Lassalleaner

Im Sommer 1869 erhält der junge ADAV Konkurrenz durch die von Bebel und Liebknecht gegründete SDAP. Mit Julius Motteler, einem aus Esslingen stammenden Tuchmacher, steht auch an der Wiege dieser Partei ein gebürtiger Württemberger in der vordersten Reihe. Die „Eisenacher“, wie die Mitglieder der neuen Partei nach ihrem Gründungsort im Volksmund genannt werden, streben die Abschaffung der Klassenherrschaft und der kapitalistischen Produktionsweise in einem freien Volksstaat an. Anders als die Lassalleaner setzen sie in diesem Zusammenhang auf internationale Kooperation, auf das Genossenschaftsmodell sowie auf gewerkschaftlichen Zusammenschluss. 

In Württemberg treten am Jahreswechsel 1869/70 der Stuttgarter und der Metzinger Arbeiterverein der neuen Partei bei. Bis zum Mai 1870 tut es ihnen knapp die Hälfte der württembergischen VDAV-Mitgliedsvereine gleich. In der boomenden Industriestadt Esslingen findet im Sommer 1871 die erste Landesversammlung der württembergischen Eisenacher statt, und schon im Herbst 1873 kann mit der „Süddeutschen Volkszeitung“ in Stuttgart das erste regionale Parteiorgan herausgegeben werden. Die erste badische SDAP-Sektion ist 1869 aus dem Gewerkverein der Pforzheimer Goldarbeiter heraus gegründet worden, weitere folgen rasch. Darüber hinaus treten auch zahlreiche Mitglieder der Freiburger und der Mannheimer ADAV-Sektion zur SDAP über. 

Parteiwechsel zwischen ADAV einerseits und SDAP andererseits sind in den ersten Jahren ohnehin so häufig wie die Erfolge beider Parteien bescheiden. Dies ist keineswegs nur den Restriktionen und Schikanen geschuldet, denen die beiden jungen Arbeiterparteien auch im vergleichsweise liberalen deutschen Südwesten ausgesetzt sind. Auch die jahrelangen ADAV-internen Querelen nach Lassalles frühem Tod 1864 tragen maßgeblich dazu bei, dass Lassalleaner und Bebelianer vorerst häufig genug vor allem damit beschäftigt sind, sich miteinander über den Stellenwert von Staatshilfe einerseits und Selbsthilfe andererseits oder über Sinn und Zweck gewerkschaftlicher Aktivitäten zu streiten, statt ihre Kräfte zu bündeln, um gemeinsam dem monarchistischen Klassenstaat Paroli zu bieten. Darüber hinaus lenken der Krieg mit Frankreich 1870/71 und die sich anschließende Reichsgründung die Menschen in Deutschland eine Zeit lang durchaus erfolgreich von den drängenden politischen und sozialen Themen ab, die die Arbeiterparteien auf die Agenda gesetzt haben. 

„Die Waffe“ vom 23. April 1869