Im März 2010 nominiert der SPD-Landesvorstand Schmid einstimmig als Spitzenkandidaten für die im März 2011 anstehende Landtagswahl, auf dem Landesparteitag im Herbst wird dieses Votum mit über 92 Prozent der Stimmen bestätigt. Er wolle „entideologisieren“, kündigt Schmid an – gerade auch bei den zentralen Themen des Wahlkampfs wie der Bildungs- und der Atomfrage.
Der Landtagswahlkampf ist zunächst geprägt von den Auseinandersetzungen um das vor allem von CDU und FDP forcierte Projekt „Stuttgart 21“, das neben einer schnelleren ICE-Trasse nach Ulm auch einen Umbau des oberirdischen Kopfbahnhofs in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof vorsieht. Tausende von Menschen demonstrieren gegen das Vorhaben, auch aus der so genannten „bürgerlichen Mitte“ erwächst zunehmend Protest. Mit einem brutalen Polizeieinsatz Ende September 2010 eskaliert die Situation. SPD-Führung und Landtagsfraktion stehen weiterhin grundsätzlich hinter Stuttgart 21, fordern jetzt aber eine Volksabstimmung über das umstrittene Bahnprojekt. Der SPD-Antrag, noch vor der Landtagswahl ein Volksvotum über das Projekt herbeizuführen, wird jedoch vom Landtag abgeschmettert.
Während die SPD von ihrer Volksabstimmungsinitiative in der Gunst der Bevölkerung kaum profitieren kann, wird der Zuspruch zu den Grünen nicht zuletzt durch den Verlauf des Schlichtungsverfahrens zu Stuttgart 21 enorm vermehrt. Den Regierungsparteien wiederum beschert der von Ministerpräsident Stefan Mappus am Landesparlament vorbei getätigte Kauf von über 45 Prozent der EnBW-Aktien einen hohen Vertrauens- und Ansehensverlust. Angesichts der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima gewinnt darüber hinaus zwei Wochen vor der Wahl die Diskussion um die Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke ungeahnte Aktualität.
Stuttgart 21, EnBW-Deal und Fukushima – diese drei Themen sind es, die letztlich den Ausgang der baden-württembergischen Landtagswahl am 27. März 2011 entscheiden. Die CDU verliert mehr als fünf Prozent, die FDP halbiert ihren Stimmenanteil und überwindet die Fünf-Prozent-Hürde nur noch knapp. In einer aufgeheizten und weitgehend polarisierten Atmosphäre hat die differenzierte Haltung der SPD in der Bahnhofsfrage bei den Wählerinnen und Wählern indes nicht verfangen, von der Wechselstimmung im Land kann sie nicht profitieren: Mit kaum mehr als 23 Prozent fährt sie ihr schlechtestes Landtagswahlergebnis seit Gründung des Südweststaats ein. Erstmals bleibt sie sogar hinter den Grünen zurück, die bei dieser Wahl mit über 24 Prozent ihren Stimmenanteil mehr als verdoppelt haben. Damit sind sie die eigentlichen Gewinner dieser Wahl.
Trotz der Schwäche der SPD können sich Grüne und SPD mit einem Vorsprung von vier Mandaten eine regierungsfähige Mehrheit sichern und CDU samt FDP auf die Oppositionsbank verweisen – ein wahrhaft historischer Machtwechsel: Nachdem die baden-württembergische Politik über ein halbes Jahrhundert lang von der CDU beherrscht wurde, ist nun endlich der Weg frei für eine ökologisch-soziale Modernisierung des Landes durch zwei auf Augenhöhe agierende Koalitionspartner.
„Der Wechsel beginnt“ – unter diesem Titel stellen Winfried Kretschmann und Nils Schmid einen Monat nach der Landtagswahl den Koalitionsvertrag von Grünen und SPD der Öffentlichkeit vor. Sozial-ökologische Marktwirtschaft, Schulreform, eine bessere Integrationspolitik und mehr direkte Demokratie – das sollen die politischen Schwerpunkte der neuen „Bürgerregierung“ sein. Über Stuttgart 21 will man nach einem „Stresstest“ und einer neuen Kostenkalkulation die Bürgerinnen und Bürger per Volksabstimmung entscheiden lassen.
In der bundesweit ersten grün-roten Koalitionsregierung übernimmt Nils Schmid das Amt des stellvertretenden Ministerpräsidenten sowie das eines Superministers für Finanzen und Wirtschaft. Mit Schmid, Innenminister Reinhold Gall, Justizminister Rainer Stickelberger, Sozialministerin Katrin Altpeter, Integrationsministerin Bilkay Öney, Bundesratsminister Peter Friedrich und Kultusministerin Gabriele Warminski-Leitheußer stellt die SPD im Kabinett sieben von zwölf Ministerinnen und Ministern. Ergänzt wird das SPD-Team durch zwei politische Staatssekretäre: Ingo Rust im Finanz- und Frank Mentrup im Kultusressort. Anfang 2013 löst der bisherige parlamentarische Geschäftsführer Andreas Stoch Warminski-Leitheußer im Amt ab. Nachdem mit Mentrup im März 2013 nach über vier Jahrzehnten erstmals wieder ein Sozialdemokrat auf dem Karlsruher Rathaussessel Platz nehmen kann, übernimmt die Gewerkschafterin Marion von Wartenberg seine bisherige Aufgabe.
Bei der Volksabstimmung über Stuttgart 21 spricht sich im Herbst 2011 eine Mehrheit gegen den Ausstieg des Landes aus dem Bahnprojekt aus. Die hohe Beteiligung an dem Urnengang zeigt, dass er das richtige Instrument zur Befriedung des Konflikts um Stuttgart 21 ist. Die Abstimmung weist zugleich weiteren Schritten in Richtung direkter Demokratie den Weg. Für die Umsetzung dieses gemeinsamen Ziels der Regierungsparteien zeichnet als Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung Gisela Erler zuständig, die Tochter von Fritz Erler.
Auch auf anderen Politikfeldern beginnt nun der echte Wechsel: Für gute Arbeit als ein wesentliches Herzstück sozialdemokratischer Politik stehen vor allem das Tariftreuegesetz, bundespolitische Initiativen zu Leiharbeit, Mindestlohn und geschlechtergerechter Bezahlung sowie das Arbeitsmarktprogramm „Gute und sichere Arbeit“. Durch die Einführung der Gemeinschaftsschule, die Abschaffung der Studiengebühren, die Verdreifachung der Mittel für die Kleinkindbetreuung und vieles mehr sorgt die neue Landesregierung zudem für mehr Chancengerechtigkeit im Bildungswesen als einem weiteren sozialdemokratischen Kernbereich.
Baden-Württemberg wird jetzt weltoffener und toleranter: Ein „Runder Tisch Islam“ wird eingerichtet, der diskriminierende Gesprächsleitfaden bei Einbürgerungen abgeschafft, die Verbannung gleichgeschlechtlicher Paare aus den Standesämtern beendet. Eine Polizeistrukturreform schafft mehr Bürgernähe und schützt gleichzeitig die Strukturen vor Ort. Bei alledem will man die strukturelle Verschuldung bis zum Jahr 2020 auf Null herunterfahren.
„Unsere Bilanz nach zwölf Monaten kann sich sehen lassen. Wir haben die Weichen für gute Arbeit und die ökologisch-soziale Modernisierung gestellt“, erklärt SPD-Generalsekretärin Katja Mast am ersten Jahrestag von Grün-Rot. Mit der Kampagne „Gute Wirtschaft – Soziales Baden-Württemberg“ hat der SPD-Landesverband unterdessen weitere eigene Akzente gesetzt und wichtige Voraussetzungen geschaffen, um das erfolgreiche Koalitionsbündnis mit der Umweltpartei weit über die nächste Landtagswahl hinaus fortzuführen.
Das Jahr 2013 führt den Blick zurück in die über 150-jährige stolze Geschichte der SPD. Die südwestdeutsche Sozialdemokratie ist stets ein prägender Teil dieser Geschichte gewesen und hat sich immer wieder bereichernd in die Arbeit auf nationaler und auf europäischer Ebene eingebracht.
Wann immer es um Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit und schließlich auch um die Versöhnung von Arbeit und Umwelt ging, haben badische und württembergische Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nachhaltige Beiträge geleistet. Und wann immer sie Regierungsverantwortung trugen, haben sie ihre Verpflichtung gegenüber den unverrückbaren Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität ernst genommen und ihr Wirken in den Kontext der großen Traditionslinie vom Vormärz über 1863 bis heute gestellt. Immer und immer wieder waren sie dabei Vordenker und Impulsgeber, und bei alledem haben sie sich nie ins enge Korsett einer Klassenpartei gefügt, sondern stets alle Bevölkerungsschichten anzusprechen versucht. Diese Kontinuität im Wandel über mehr als anderthalb Jahrhunderte hinweg nachzuzeichnen war Aufgabe dieser kleinen Darstellung der Geschichte der südwestdeutschen Sozialdemokratie als „Avantgarde und Volkspartei“.