1905

„Propaganda der Tat“ oder Kungeln mit dem Klassenfeind?

Die südwestdeutsche Koalitions- und Budgetbewilligungspolitik

Der langjährige vereinte Kampf der württembergischen SPD und anderer Parteien um eine Reform des württembergischen Landtagswahlrechts ist unterdessen zumindest teilweise von Erfolg gekrönt: Die Landtagswahl vom Dezember 1906 erfolgt erstmals nach dem Proporzsystem. Mit 25 Prozent kann die SPD deshalb zum ersten Mal mehr Stimmen als jede andere Partei für sich verbuchen, angesichts des ungerechten Wahlsystems erobert sie aber nur ein knappes Sechstel der Mandate. Vor dem zweiten Wahlgang ist der SPD-Landesverband ein Stichwahlabkommen mit der liberalen Württembergischen Volkspartei eingegangen. Damit nicht genug, bewilligt die Landtagsfraktion im Sommer 1907 den Landeshaushalt mit und ermöglicht erst damit dessen Passieren. Unter Verweis auf die zahlreichen sich daraus ergebenden Verbesserungen segnen im Folgejahr auch die bayrische und die badische SPD-Landtagsfraktion die Landesetats mit ab. In Baden kann auf diese Weise unter anderem eine Erhöhung der jämmerlich niedrigen Gehälter und Löhne im öffentlichen Dienst durchgesetzt werden. Ein Vertrauensvotum für die Regierung ist das Votum nicht. 

Die Führungsriege der badischen SPD um Wilhelm Kolb, Ludwig Frank und Adolf Geck im Jahr 1906 

Die Budgetbewilligungspolitik der süddeutschen Landesverbände ruft innerhalb der Reichs-SPD noch größere Widerstände als ihre Koalitionspolitik hervor. Denn will man die Klassenkampftheorie von Karl Marx konsequent umsetzen, dann muss man grundsätzlich gegen jeden Haushalt stimmen – ist doch der Staat gemäß der sozialdemokratischen Programmatik nichts anderes als ein Instrument, dessen sich die herrschende Klasse zur Niederhaltung der ausgebeuteten Arbeiter bedient. Der Nürnberger Parteitag von 1908 verurteilt das Handeln der badischen Sozialdemokraten demgemäß harsch – was diese aber nicht daran hindert, den Landeshaushalt auch 1909 wieder abzusegnen. 

Wie bereits zwei Jahre zuvor steht Ludwig Frank, der Frontmann der süddeutschen „Frondeure“ auf Reichsebene, auf dem Magdeburger Parteitag 1910 am Pranger. Bebel attackiert seinen einstigen Favoriten in schärfster Form, ein Parteiausschluss droht – der freilich durchaus die Spaltung der Partei zur Folge haben könnte. Längst nämlich hat sich in den Reihen der süd- und südwestdeutschen SPD ein wesentlich differenzierteres Bild vom Staat durchzusetzen begonnen. Demgemäß ist die parlamentarische Demokratie zwar keineswegs das eigentliche Ziel, wohl aber eine notwendige Voraussetzung zur Erlangung dieses Ziels: einer gerechten Gesellschaftsordnung. In diesem Sinne betreibt man eine pragmatische Politik und sucht sich jenseits aller ideologischen Vorbehalte Bündnispartner für drängende politische und soziale Reformen.