1907

Um Krieg und Frieden

Der Stuttgarter SozialistenKongress

Obwohl die SPD die organisationsstärkste sozialistische Partei der Welt ist, macht die Zweite Internationale, wenn es um die Ausrichtung von Kongressen geht, lange Zeit einen großen Bogen um Deutschland. In den meisten deutschen Staaten nämlich – allen voran Preußen – ist mit Verboten und Polizeimaßnahmen zu rechnen. Der Sozialistenkongress des Jahres 1900 hat deshalb in Paris, der des Jahres 1904 in Amsterdam getagt. Als dann aber im Sommer 1907 der nächste Sozialistenkongress ansteht, wagt man es endlich, ihn in Deutschland zu veranstalten: Die württembergische Regierung sichert eine ungehinderte Durchführung des Kongresses zu, und mit der Stuttgarter Liederhalle ist für die 884 Delegierten aus 25 Ländern ein würdiger und repräsentativer Veranstaltungsort gefunden. Auf den damals zehnjährigen Carlo Schmid – den sein Vater zu den Eröffnungsfeierlichkeiten mitgenommen hat – übt die Veranstaltung großen Eindruck aus, vor allem der Auftritt des französischen Sozialistenführers Jean Jaurès. 

Der Stuttgarter Kongress ist durch eine Grundsatzdiskussion über das Verhalten der sozialistischen Parteien im Kriegsfall geprägt. Fast alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind von der Unvermeidbarkeit eines baldigen Krieges überzeugt, weil der herrschende Imperialismus unaufhaltsam darauf zusteuere. Allen ist jedoch zugleich klar, dass dieser Krieg für die Arbeiterklasse fürchterlich werden wird. Somit gilt es, ihn so lange wie möglich hinauszuzögern. Am Schluss der heftigen Debatten stehen drei Alternativen zur Wahl: Ein Teil der französischen Delegierten um Jean Jaurès will im Kriegsfall zum Massenstreik aufrufen, die radikale Linke um Lenin und Rosa Luxemburg hingegen den Krieg in eine Revolution umwandeln. Die große Mehrheit der Delegierten um August Bebel wiederum will den Krieg zwar grundsätzlich bekämpfen, die Entscheidung im Kriegsfall aber von der konkreten Situation abhängig machen. Damit zeichnen sich die späteren Bruchlinien innerhalb der Arbeiterbewegung auch im internationalen Maßstab bereits deutlich ab.