1900

Von der Wiege bis zur Bahre

Die Arbeiterbewegung als Kulturbewegung

Eben weil man die in Not und Elend lebenden Massen nicht nur auf eine ferne sozialistische Zukunft vertrösten kann und will, ist um Partei und Freie Gewerkschaften herum unterdessen ein dichtes Netz an Selbsthilfeeinrichtungen geknüpft worden, das von Kranken-, Arbeitslosen- und Sterbekassen bis zu Konsum- und anderen Genossenschaften reicht und seit 1909 mit dem Arbeiter-Samariter-Bund auch eine eigene Rettungsorganisation umfasst. Von der Wiege bis zur Bahre sucht die sozialdemokratische Solidargemeinschaft damit mit ihren begrenzten Mitteln die gravierenden Lücken im deutschen Sozialsystem zu stopfen. 

Neben all diesen Selbsthilfeeinrichtungen findet sich unter den Vorfeldorganisationen der Sozialdemokratie auch eine schier unüberschaubare Zahl an Gesang- und Sportvereinen. Die zahlreichen Turn- und Radfahrclubs tragen wohlklingende Namen wie „Freiheit“ oder „Solidarität“. Unter der Ägide der Gewerkschaften öffnen seit der Jahrhundertwende auch Arbeiterbibliotheken ihre Pforten, und Volksbühnen bieten dramatische Darbietungen zu erschwinglichen Preisen. Zu diesem vielfältigen kulturellen Angebot gesellt sich später – von Österreich ausgehend – die Naturfreunde-Bewegung hinzu, die gesellige Erholung fern der belasteten Stadtluft bietet. 

1906-09 Foto Bebel u. a. Schlossterrasse HD (AdsD) 

Ein Stuttgarter Spezifikum ist die Waldheim-Bewegung: Um 1910 werden aus den Reihen der Arbeiterbewegung heraus in den Wäldern um die württembergische Hauptstadt herum mehrere Erholungseinrichtungen mit Freizeitangeboten und Gaststättenbetrieb errichtet, die Alt und Jung Licht und Luft bieten sollen. Das Waldheim in Heslach wird 1908 eröffnet, ein Jahr später das Waldheim in Sillenbuch, das sich in der Folgezeit mehr und mehr zu einem Treffpunkt der Parteilinken entwickelt. 

Dem vielfältigen Freizeit- und Kulturangebot kommt eine Doppelfunktion zu: Einerseits schafft sich in ihm die aus der wilhelminischen Klassengesellschaft, ihrem Bildungssystem und ihrem Vereinswesen ausgegrenzte Arbeiterschaft notgedrungen eigene Strukturen, die das Vorenthaltene kompensieren sollen. Darüber hinaus will man aber auch schon in der rauen Gegenwart Freiräume für die Verwirklichung des eigenen Gesellschaftsideals schaffen: Im Sport rangieren Formationsturnen und gemeinsames Radeln weit vor reiner Wettkampforientierung, und die Chöre pflegen neben dem klassischen „bürgerlichen“ Repertoire ein reiches und stetig wachsendes Arbeiterliedgut. Auf diese Weise liefert die Arbeiterkulturbewegung die Praxismodelle eines solidaritätsbasierten gesellschaftlichen Gegenentwurfs und bringt dabei auch neuartige Ausdrucksformen hervor.