Bei der Reichstagswahl zu Jahresbeginn 1874 kann der Lassalleaner Emil Fleischmann im Wahlbezirk Stuttgart immerhin bereits 13,5 Prozent der Stimmen für sich verbuchen – ein erster Erfolg für die Sozialdemokratie. Nachdem der ADAV just im selben Jahr, statt den Südwesten weiterhin nur mit Wanderagitatoren zu beglücken, den Düsseldorfer Schreinergesellen August Dreesbach als sogenannten „stabilen Agitator“ nach Mannheim entsendet, beginnt sich auch in Baden das Blatt für die junge Arbeiterbewegung allmählich zu wenden. Dreesbachs Auftrag: von der badischen Industriemetropole aus die noch dümpelnde Arbeiterbewegung in Südwestdeutschland aufbauen.
In der Tat markiert Dreesbachs Einzug in die Quadratestadt den Beginn der Etablierung der Sozialdemokratie in Baden und der Pfalz. Dem gewandten Redner spielen dabei vor allem zwei Faktoren in die Hände: Zum einen hat unterdessen in vielen Regionen des deutschen Südwestens die Industrialisierung mit Macht eingesetzt und bringt nun auch hier jene massiven sozialen Verwerfungen hervor, die im Ruhrgebiet oder in Sachsen längst zur traurigen Realität gehören. Zum anderen weisen die Zeichen zwischen den beiden einst so verfeindeten Arbeiterparteien mittlerweile in Richtung Zusammenarbeit – und schließlich in Richtung Zusammenschluss.
Parteiagitation in den Anfangsjahren der Sozialdemokratie
Probenummer des „Pfälzisch-Badischen Volksblatts“ vom September 1877
Im Mai 1875 schließen sich ADAV und SDAP in Gotha zur „Sozialistischen Arbeiterpartei“ zusammen. Anders, als der Name der neuen Partei vermuten lassen mag, trägt das Programm, das sie sich auf dem Vereinigungsparteitag gibt, deutlich reformistische Züge – eine notwendige Konzession an die Lassalleaner.
Ein Arbeitertag im pfälzischen Neustadt an der Weinstraße läutet bereits im April 1876 den Aufbau eines „Pfälzisch-Badischen Agitationskomitees“ der vereinigten Arbeiterpartei ein. Die frühe Regionalorganisation arbeitet sehr erfolgreich, und seit September 1877 kann sie mit dem „Pfälzisch-Badischen Volksblatt“ sogar eine eigene Zeitung herausgeben. Auch als im Oktober 1878 die SAP und ihre Gliederungen verboten werden, besteht das Agitationskomitee inoffiziell weiter fort. Für das regionale Parteiorgan hingegen bedeutet das Parteiverbot das Aus, Druckerzeugnisse müssen seither heimlich aus dem Ausland ins Reich geschmuggelt werden.
Während das Landtagswahlrecht in Baden fortschrittlicher ist als das der meisten anderen deutschen Länder, gilt auf kommunaler Ebene ein zutiefst ungerechtes Dreiklassenwahlrecht – ein Sachverhalt, der für die Sozialdemokratie zunächst eine große Hürde auf dem Weg in die Rathäuser darstellt. Dass diese Hürde jedoch nicht unüberwindbar ist, soll sich noch wenige Tage vor dem Inkrafttreten des Bismarck’schen „Sozialistengesetzes“ im Oktober 1878 eindrucksvoll erweisen: Bei der Mannheimer Kommunalwahl kann die SAP aus dem Stand heraus sämtliche Mandate in der Klasse der Niederbesteuerten erringen. Mit Dreesbach sowie weiteren 15 Mannheimer Genossen rücken nun erstmals Sozialdemokraten als Stadtverordnete in einen Bürgerausschuss des deutschen Südwestens ein.
Auch in Stuttgart ist die SAP unterdessen erstarkt: Bei der Reichstagswahl vom Juli 1878 hat ihr Kandidat, der Schriftsteller Albert Dulk, in manchen Stadtteilen bis zu 40 Prozent der Stimmen eingefahren und mit insgesamt rund 21 Prozent ein Achtungsergebnis erzielt. Im Folgejahr – die Partei ist längst verboten – ziehen in Esslingen erstmals Sozialdemokraten auch in einen württembergischen Bürgerausschuss ein. Ein Wahlbündnis mit der demokratischen Volkspartei hat diesen Erfolg möglich gemacht.
Das von Reichskanzler Otto von Bismarck 1878 im Reichstag durchgesetzte „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ treibt die Arbeiterbewegung – Partei, Gewerkschaften sowie einen Großteil ihrer Vorfeldorganisationen – auf Jahre hinaus in die Illegalität. Ihren rasanten Aufstieg zur Massenbewegung kann das Parteiverbot jedoch ebenso wenig aufhalten wie die Sozialgesetze der Jahre 1883 bis 1891, mit denen der Sozialistenhasser der Arbeiterbewegung durch Linderung der allerschlimmsten Not im Zuge einer Doppelstrategie die Grundlagen entziehen will.
Während das „Sozialistengesetz“ in Preußen und andernorts rigoros angewandt wird, findet es im deutschen Südwesten eine vergleichsweise milde Handhabung. Vor allem Württemberg entwickelt sich deshalb in der Folgezeit mehr und mehr zum Zufluchtsland für Sozialdemokraten aus dem ganzen Reich.
Die Parteipresse allerdings kommt auch in Württemberg und in Baden zunächst zum Erliegen. Die Redaktion und Produktion politischer Schriften muss nun ins benachbarte Ausland verlagert, die Verbreitung im Untergrund bewerkstelligt werden. Dem Grenzland Baden kommt in diesem Zusammenhang eine Rolle von reichsweiter Bedeutung zu. Als Verteilstationen für das zentrale Parteiorgan „Der Sozialdemokrat“ und andere Schriften, die fortan aus der Schweiz illegal eingeschmuggelt werden müssen, etablieren sich vor allem Mannheim und Offenburg. Als Hauptorganisator profiliert sich – im engen Zusammenspiel mit Julius Motteler – der Offenburger Joseph Belli.