1885

Aus dem Untergrund in die Rathäuser

Tarnorganisationen und Wahlerfolge

Auch die Esslinger Genossen haben unterdessen bei den jährlich stattfindenden Bürgerausschusswahlen die Anzahl ihrer Mandate kräftig erhöhen können. Die Industriestadt am Neckar soll jedoch lange Zeit die einzige württembergische Stadt bleiben, in der die Sozialdemokratie reüssiert: Als das Kommunalwahlrecht 1885 an Bürgerrecht, Zahlung von Gemeindesteuern und einen dreijährigen Mindestaufenthalt am Ort gekoppelt wird, soll sich das Wahlvolk mancherorts nahezu halbieren und die Chance auf den Einzug in ein weiteres Stadtparlament rapide sinken. 

Um den zehn Jahre zuvor mühsam errungenen Zehnstundentag zu verteidigen, treten im Juni 1883 die Stuttgarter Schreiner in den Streik. Unter der Führung des Sozialdemokraten Karl Kloß dehnt sich dieser Ausstand zum bis dahin größten in ganz Württemberg aus. Nach sechs Wochen haben die zuletzt über 600 Streikenden nicht nur eine sechsprozentige Lohnerhöhung und die Vergütung von Überstunden durchgesetzt. Darüber hinaus hat der Stuttgarter Schreinerstreik den Impuls für die Gründung eines reichsweiten Zentralverbands der Tischlervereine erbracht. Stuttgart wird Sitz des Verbands, an seine Spitze tritt Kloß. Beginnend 1884 mit den Buchbindern, wird in den folgenden Jahren im Zuge fortschreitender gewerkschaftlicher Zentralisation eine Reihe weiterer Zentralverbände ihren Sitz in Stuttgart nehmen. 

Die Beerdigung des allseits anerkannten Parteiführers Albert Dulk im Herbst des Folgejahres gerät zu einer machtvollen Demonstration sozialdemokratischer Stärke: Bei einem Trauerzug durch die Straßen Stuttgarts geben mehrere Tausend Arbeiterinnen und Arbeiter dem Parteiführer das letzte Geleit. 

Mitte der 1880er Jahre gründen sich in vielen südwestdeutschen Orten „Arbeiter-Vereine“ oder auch „Arbeiter-Wahlvereine“ als legale Ableger der verbotenen Parteiorganisation. Im Ergebnis kann sogleich eine neue Bastion des Bürgertums zwar nicht geschleift, aber doch zumindest erschüttert werden: Im Kampf um das Reichstagsmandat für Mannheim, Schwetzingen und Weinheim schafft es August Dreesbach im Februar 1887 erstmals bis in die Stichwahl und unterliegt, ausgestattet mit einer Wahlempfehlung der Demokratischen Partei, nur knapp seinem nationalliberalen Konkurrenten. Bei der Reichstagswahl vom Februar 1890 schließlich – das „Sozialistengesetz“ ist offiziell noch immer in Kraft – zieht er dann tatsächlich als erster badischer Sozialdemokrat ins deutsche Nationalparlament ein.