1933

„Wehrlos, aber nicht ehrlos“

Die SPD und die Machtübergabe an die Nazis

Am 30. Januar 1933 ernennt Reichspräsident Paul von Hindenburg den NSDAP-„Führer“ Adolf Hitler zum Kanzler des Deutschen Reichs, zwei Tage später löst er den Reichstag auf und ordnet Neuwahlen an. Die Reichstagswahl vom 5. März 1933 ist freilich keine freie Wahl mehr: Reichsweit werden Sozialdemokraten und Kommunisten mittels Terror und Gewalt am Wahlkampf gehindert. Der Reichstagsbrand am 27. Februar bietet den Nazis eine willkommene Gelegenheit, um die Reichstagsmandate der KPD für erloschen zu erklären und Tausende von Kommunisten, aber auch Sozialdemokraten und Gewerkschafter in „Schutzhaft“ zu nehmen. 

In Württemberg erzielt die SPD bei dieser Wahl nur noch magere 15 Prozent, in Baden sogar weniger als zwölf Prozent – über ein Drittel weniger als im Reich. Die NSDAP bleibt in Württemberg nur leicht hinter ihrem Reichsergebnis zurück, in Baden übertrifft sie es sogar. Allerorten warten Aktivisten von Reichsbanner und Eiserner Front in der Nacht nach der Wahl auf das Signal zum Straßenkampf – doch es bleibt aus: Zu groß ist die Angst der Partei- und Gewerkschaftsführer vor einem nutzlosen Blutvergießen. 

In den folgenden Tagen werden die Parteizentralen und Gewerkschaftshäuser von SA-Horden gestürmt, eine weitere „Schutzhaft“-Welle bricht über die Arbeiterbewegung herein. Am 9. März erscheint die letzte Ausgabe der Mannheimer „Volksstimme“, am 10. März die letzte Nummer der „Schwäbischen Tagwacht“. 

Großkundgebung der Eisernen Front im Februar 1933 in der Stuttgarter Stadthalle 

Am 17. März sodann ereignet sich in Freiburg ein Zwischenfall mit weit reichenden Konsequenzen: In einer vermeintlichen Notwehrsituation erschießt der sozialdemokratische Landtagsabgeordnete Christian Nussbaum durch die Tür seiner Wohnung hindurch zwei Polizeibeamte – willkommener Anlass, um für sämtliche badische Landtags- und Reichstagsabgeordnete der SPD und der KPD „Schutzhaft“ anzuordnen. 

Als der Reichstag am 23. März das „Ermächtigungsgesetz“ für die Hitler-Regierung behandelt, fehlen dort deshalb neben 23 weiteren Genossen auch die badischen SPD-Abgeordneten: Ludwig Marum aus Karlsruhe und Stefan Meier aus Freiburg sind verhaftet, der Mannheimer Ernst Roth hat sich der Verhaftung durch Flucht ins Saargebiet entzogen. Zu den 94 sozialdemokratischen Parlamentarierinnen und Parlamentariern, die noch in den Sitzungssaal haben vordringen können, gehören die Württemberger Erich Roßmann, Kurt Schumacher, Fritz Ulrich und Jakob Weimer. „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“, schleudert der SPD-Vorsitzende Otto Wels den Nazis und ihren Steigbügelhaltern entgegen, bevor er und seine Fraktion mit 94 zu 444 Stimmen unter Gefahr für Leib und Leben geschlossen gegen das Gesetz stimmen. 

In der Hoffnung, wo nicht die Partei, so wenigstens die Gewerkschaftsorganisation vor der Zerschlagung zu retten, haben sich die Freien Gewerkschaften unterdessen von der SPD losgesagt. Nicht nur moralisch, sondern auch strategisch soll sich dieser Anpassungskurs als fatal erweisen: Nachdem die Nazis die Arbeiterbewegung am 1. Mai vorgeführt und gedemütigt haben, werden am folgenden Tag die Gewerkschaftshäuser und Redaktionsbüros gestürmt und Tausende Gewerkschafter verhaftet. Mit der Gründung der „Deutschen Arbeitsfront“ am  

10. Mai sind die Gewerkschaften auch formal aufgelöst. 

„Völkischer Beobachter“ nach der Besetzung eines Gewerkschaftshauses durch SA am 2. Mai 1933 

Nun haben die Nazis die Macht, der SPD die Quittung für ihren unermüdlichen Kampf um den Erhalt der Demokratie zu präsentieren. Im Rahmen einer an Niedertracht kaum zu überbietenden „Schaufahrt“ werden am 16. Mai sieben prominente badische Sozialdemokraten – eskortiert von einer johlenden Meute und zahlreichen feixenden Gaffern – von Karlsruhe ins kurz zuvor eilig eingerichtete Konzentrationslager Kislau bei Bruchsal verschleppt. Den verhassten früheren Innenminister Adam Remmele hat man zu diesem Behufe eigens aus Hamburg herangekarrt. Unter Anspielung auf seinen erlernten Beruf lassen die Nazis eine johlende Meute „Das Wandern ist des Müllers Lust“ intonieren. 

Außer der Schlossanlage Kislau hat die „gleichgeschaltete“ badische Landesverwaltung auch das Hofgut Ankenbuck nahe dem südbadischen Villingen zum KZ umgerüstet. Ehe das Lager im März 1934 wieder aufgelöst wird und viele seiner Insassen nach Kislau verbracht werden, erdulden auch dort zahlreiche Sozialdemokraten eine „Schutzhaft“ – so unter anderem der Freiburger Reichstagsabgeordnete Stefan Meier oder der Mannheimer Gewerkschaftsvorsitzende Jakob Trumpfheller. 

Auf dem Heuberg keine 50 Kilometer von Ankenbuck entfernt hat auch die württembergische Landesverwaltung flugs ein provisorisches „Schutzhaft“-Lager errichtet. Bevor es am Jahreswechsel 1933/34 zugunsten eines KZs auf dem Oberen Kuhberg in Ulm wieder aufgelöst wird, ist dort unter anderem Kurt Schumacher inhaftiert – der Beginn seines fast zehnjährigen Leidenswegs durch die Lager des NS-Regimes. Wie Hunderte anderer Genossinnen und Genossen lernen auch Fritz Ulrich, Erich Roßmann und Karl Ruggaber, der Vorsitzende des württembergischen Reichsbanners, den Heuberg und andere württembergische Lager kennen. Ruggaber wird Anfang 1936 den Folgen der auf dem Heuberg erlittenen „Schutzhaft“ erliegen. 

Der Selbstentmachtung des Reichstags folgt die Auflösung der Landesparlamente. Am 8. Juni 1933 verabschiedet der württembergische Landtag das „Ermächtigungsgesetz“. Einzig die sechs Mitglieder der SPD-Fraktion, die noch zu der Sitzung haben erscheinen können, enthalten sich der Stimme. Am Tag darauf beschließt auch der badische Landtag das Gesetz. Die wenigen Gegenstimmen kommen abermals von der SPD – genauer: von jenen fünf ihrer Abgeordneten, die nicht inhaftiert oder vor der Haft geflohen sind.