1890

Heraus aus der Illegalität, hinein in die Parlamente

Die südwestdeutsche Sozialdemokratie im Aufwind

Die Verfolgungen unter dem „Sozialistengesetz“ haben viele Genossen ins Exil getrieben, und manch einer von ihnen wird nie mehr zurückkehren. Dennoch hat das zwölfjährige Parteiverbot die Aufwärtsentwicklung der Sozialdemokratie zwar behindern, aber nicht verhindern können. Vor diesem Hintergrund verweigert der Reichstag dem „eisernen Kanzler“ Bismarck zu Jahresbeginn 1890 nicht nur die Zustimmung zur geplanten Verschärfung des Gesetzes, sondern auch zu dessen Verlängerung. Zum 30. September 1890 fällt das Gesetz endgültig. Die deutsche Sozialdemokratie kann sich nun an den Wiederaufbau ihrer Organisationsstrukturen machen. 

„Traueranzeige“ im „Schwäbischen Wochenblatt“ vom 1. Oktober 1890 

Die Jahre 1878 bis 1890 hallen in der deutschen Sozialdemokratie lange nach und nehmen in ihrer Erinnerungskultur einen zentralen Platz ein. Zu den Lehren, die man aus dieser Zeit zieht, gehört nicht zuletzt die Etablierung einer doppelten Führungsspitze. Im Falle abermaliger Verfolgung – so die Idee – soll einer der beiden Vorsitzenden mit der Parteikasse ins Ausland flüchten, während der andere im Reich die Stellung hält. Angesichts des Terrors indes, wie er 43 Jahre später mit der NS-„Machtergreifung“ einsetzen wird, versagt auch dieses Instrument. 

Auf dem Erfurter Parteitag der aufstrebenden Arbeiterpartei im Oktober 1891 wird ein stark marxistisch akzentuiertes Programm beschlossen, das freilich durchaus bereits einen Widerspruch zwischen sozialistischer Theorie und realpolitischer Praxis in sich trägt. Im Gothaer Programm von 1875 allenfalls indirekt enthalten, wird nun erstmals auch explizit die Forderung nach dem Frauenwahlrecht aufgestellt. Zugleich gibt sich die Partei einen neuen Namen: Sozialdemokratische Partei Deutschlands. 

Unterdessen hat auch in Württemberg und Baden die Industrialisierung an Fahrt aufgenommen. Vor allem der Fahrzeug- und Maschinenbau, die Elektrotechnik und die Chemie können sich im Südwesten als starke Industriezweige etablieren. In der Konsequenz strömen immer mehr Menschen – Facharbeiter wie Ungelernte – in die badischen und württembergischen Städte. Hat etwa Stuttgart 1871 wenig mehr als 90.000 Einwohnerinnen und Einwohner gezählt, so werden es bis 1914 bereits über 300.000 sein. Mannheim, das industrielle Zentrum Badens, wird seine Einwohnerzahl im selben Zeitraum sogar nahezu versechsfachen. 

Während eine kleine Schicht preußischer Junker und rheinischer Schlotbarone – abgesichert durch das preußische Dreiklassenwahlrecht – Macht, Geld und Einfluss im Deutschen Reich in der Hand hält, ist das Leben der proletarisierten Stadtbevölkerung von bis zu 70-stündigen Wochenarbeitszeiten, von katastrophalen Missständen im Bereich des Arbeitsschutzes, von Wohnungselend, Mangelernährung, Krankheiten, hoher Säuglingssterblichkeit und vollständiger Marginalisierung geprägt. Die Sozialdemokratie gibt den Entwurzelten und Entrechteten eine politische Stimme und bietet ihnen eine soziale Heimat. 

Im deutschen Südwesten liegen die Dinge dennoch ein wenig anders als in Sachsen oder im Ruhrgebiet: Die Klassengegensätze sind hier im Allgemeinen weniger ausgeprägt als andernorts. Auch in den unteren Schichten finden sich vielfach Klein- und Kleinstbesitzer, nur in wenigen industriellen Zentren ein breites Industrieproletariat, und die Lage von Arbeitern und Kleinbürgern ist erträglicher als andernorts. Auch wenn die Agitation der SPD dadurch durchaus erschwert ist, nimmt die Partei nun auch in Württemberg und Baden eine rasante Aufwärtsentwicklung: 

Nachdem August Dreesbach schon 1890 als erster badischer Sozialdemokrat in den Reichstag eingezogen ist, kann seine Partei im Folgejahr zwei der drei Mannheimer Landtagsmandate erobern, 1897 folgt auch noch das dritte. Die SPD-Fraktion im Ständehaus zählt jetzt fünf Mitglieder, 1899 werden es sieben sein. Dreesbach als der Vorsitzende der kontinuierlich wachsenden Schar schmiedet unterdessen mit den Vertretern der katholischen Zentrumspartei erfolgreiche Bündnisse gegen die in Baden dominierenden Nationalliberalen. 

Durchschlagenden Wahlerfolgen auf kommunaler Ebene hingegen steht in Baden vorerst noch das ungerechte Dreiklassenwahlrecht entgegen. In Württemberg gibt es zwar keine Zensuswahl, doch erschwert hier die fortbestehende Bindung des kommunalen Wahlrechts an das volle Bürgerrecht die Ausbreitung der Partei. Nun aber, in der Legalität, kann sie endlich eine gezielte Kampagne für den kostspieligen Erwerb des Bürgerrechts in Angriff nehmen, die nicht ohne Wirkung bleibt: 

Noch 1891 zieht mit dem Holzgewerkschafter Karl Kloß erstmals ein Sozialdemokrat in den Stuttgarter Bürgerausschuss ein, seit 1897 vertritt er die SPD auch im örtlichen Stadtrat. 1895 kann Kloß für seine Partei einen der ersten beiden Sitze im württembergischen Landtag erobern, bei der Reichstagswahl vom Juni 1898 sodann das erste Reichstagsmandat. Bei der Landtagswahl des Jahres 1900 soll die württembergische SPD ihren Stimmenanteil von knapp elf auf nunmehr immerhin knapp 19 Prozent steigern. Ganze fünf Genossen werden seither im Landesparlament für die politische und soziale Emanzipation der Massen eintreten. 

Wenn die Reichs-SPD im September 1898 in Stuttgart ihren ersten Parteitag im deutschen Südwesten abhält, so trägt sie damit nicht zuletzt der gewachsenen Bedeutung der dortigen Arbeiterbewegung Rechnung. In fast allen größeren Städten und Regionen des deutschen Südwestens verfügt die SPD unterdessen über eigene Tageszeitungen. Stellvertretend seien etwa genannt der Karlsruher „Volksfreund“, die seit 1890 erscheinende Mannheimer „Volksstimme“ oder die im selben Jahr erstmals in Stuttgart herausgegebene „Schwäbische Tagwacht“ als das Leitblatt der württembergischen SPD.