1890

Arbeitszeitfrage, Fahnenverbot und rote Nelke

Die Maifeier als Kernstück sozialdemokratischen Selbstverständnisses

Programm der Mannheimer Maifeier 1891 

In einem mehr und mehr von extremstem Nationalismus geprägten Klima setzen Sozialdemokraten aus aller Welt im Juli 1889 – genau 100 Jahre nach dem Ausbruch der Französischen Revolution – in Paris mit der Gründung der Zweiten Sozialistischen Internationale ein Zeichen grenzübergreifenden Zusammenhalts. Unter den Gründern finden sich auch einige südwestdeutsche Sozialdemokraten wie etwa der Stuttgarter Gewerkschafter Karl Kloß. Sie sind damit zugleich Mitinitiatoren eines folgenreichen Beschlusses: An jedem 1. Mai soll nach dem Willen der Gründer fortan alljährlich weltweit ein sichtbares Zeichen internationaler Solidarität gesetzt und öffentlich für Arbeiterrechte demonstriert werden. 

„Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Muße, acht Stunden Ruhe!“ – mit dieser zum damaligen Zeitpunkt noch schier utopisch anmutenden Forderung begehen Arbeiterparteien in aller Welt dementsprechend Anfang Mai 1890 zum ersten Mal den „Weltfeiertag“ der Arbeiter. Vorerst gehört freilich noch großer Mut dazu, tatsächlich die Arbeit ruhen zu lassen, um im Rahmen einer Maikundgebung der Forderung nach einer Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse der Lohnarbeiterschaft Ausdruck zu verleihen: Es drohen Entlassung und polizeiliche Repressalien. Nicht zuletzt für die deutsche Arbeiterbewegung hat dies zu gelten, die im Frühjahr 1890 noch immer durch das „Sozialistengesetz“ geknebelt ist. Jetzt wie auch in späteren Jahren wird das Problem vielerorts dadurch gelöst, dass man die Maikundgebung auf den ersten Sonntag des Wonnemonats verlegt. 

Die Maikundgebung wird fortan den Höhepunkt sozialdemokratischer Fest- und Protestkultur im Jahreslauf darstellen – auch in Baden, wo bislang vor allem die Märzfeiern im Gedenken an die Revolution von 1848/49 zentralen Stellenwert eingenommen haben. Umrahmt werden die Reden von Kulturdarbietungen sozialdemokratischer Vorfeldorganisationen – allen voran die unterdessen überaus zahlreichen Arbeitergesangvereine. 

Auch nach dem Auslaufen des „Sozialistengesetzes“ observiert die Polizei alle Veranstaltungen der Sozialdemokratie streng. Festzüge sind und bleiben strengstens untersagt, desgleichen das Zeigen roter Fahnen, das der Staatsmacht als Symbol einer revolutionären, der Staatsordnung feindlichen Gesinnung gilt. So heften sich die Genossen nun notgedrungen rote Nelken als Erkennungszeichen an die Joppen und ziehen in kleinen Grüppchen schweigend vor die Stadttore, um sich dort in Schänken zu versammeln. Wenn man freilich hofft, in einem abgelegenen Ausflugslokal der Konfrontation mit der Staatsmacht zu entgehen, hat man sich getäuscht: Die Polizei achtet meist auch mitten im Wald peinlich genau auf die Einhaltung des Fahnenverbots.